Den Auftakt machte die JVA Reinickendorf. Der Gefängnistrakt, der von der Straße aus wie eine Jugendherberge anmutet, hält derzeit über 50 weibliche Gefangene vornehmlich in gelockerten Vollzugsformen, was sich unter anderem an den unvergitterten Zellenfenstern zeigt. Coronabedingt konnte nur eine begrenzte Anzahl von Strafgefangenen an der Aktion im Besprechungsraum teilnehmen. Zunächst war man mehr als skeptisch, was nicht zuletzt daran lag, dass die Frauen völlig unvorbereitet den Raum betraten, der zuvor zu einem Wahllokal umgestaltet worden war. Man konnte die inneren Vorbehalte förmlich spüren; nur zaghaft machten zunächst nur einige Wenige Gebrauch von dem Angebot und begannen sich mit den Wahlzetteln zu beschäftigen. Nach gut einer Stunde war jedoch das Eis gebrochen. „Anfangs haben wir uns verschaukelt gefühlt“, verriet eine Teilnehmerin offenherzig: „Kunst auf Wahlzettel – wozu das denn?“ Als die Teilnehmerinnen dann aber merkten, dass ihnen ehrliches Interesse entgegengebracht wurde, griff jede zu Pinsel und Stiften und gestaltete die Wahlzettel – von verspielt über clownesk bis wuchtig waren viele Ausdrucksstile vertreten. Die anschließende Diskussion über die Möglichkeiten des Einzelnen innerhalb der Demokratie waren kontrovers. Einerseits wurde das deutsche Staatssystem von einzelnen prinzipiell abgelehnt. Auf ihre fatalistische Haltung angesprochen, zeigten einige Gefangene Courage und artikulierten ihren Unmut über die ihrer Meinung nach unzureichende medizinische Versorgung innerhalb der JVA. Am Ende des Vormittags versprachen die Teilnehmerinnen, bei nächster Gelegenheit eine Sprecherin zu wählen, die die Belange der Strafgefangenen der Vollzugsverwaltung gegenüber artikulieren und sich um eine Verbesserung der Zustände kümmern solle. Gelebte Demokratie fängt im Kleinen an!
Am kommenden Tag fand die Aktion in der Werkstatt der JVA Berlin-Lichtenberg statt. Hier konnte man schnell vergessen, dass hohe Mauern das Anwesen wirksam vor Flucht abschirmen. Werkbänke, halb fertige Töpferwaren, Bilder auf Leinwänden, eine Musikanlage – für die musische Betätigung gab es hier keine Grenzen. Die TeilnehmerInnen fassten auch viel schneller Zutrauen zur Aktion als die Frauen noch am Vortag, da sie vertrauter mit kreativer Betätigung waren und offensichtlich künstlerischen Ausdrucksangeboten ohne größere Vorbehalte gegenüberstanden. Ein Teilnehmer malte sich so sehr in kreative Rage, dass beinahe ein halbes Dutzend Kunstwerke entstanden. Eine andere Teilnehmerin, eine hochschwangere junge Frau, malte liebevoll und mit großer Sorgfalt und Innigkeit Bilder ihrer Träume von einem friedlichen Miteinander. Eine andere Teilnehmerin überließ dem Zufall, welche Gestalten auf ihrem Wahlzettel entstanden. Sie bewegte flüssige Farbtusche auf dem Papier solange, bis Formen zutage traten, die sie zur weiteren Gestaltung inspierten. Während des Malens entspannen sich interessante Gespräche über ihre Lebensumstände und vor allem um ihre Zukunft. Alle waren sich darüber im Klaren, wie wichtig es sei, eine Schul- und anschließend eine Fachausbildung zu absolvieren. Zur abschließenden kleinen Ausstellung, bei der jede Arbeit die gebührende Aufmerksamkeit fand, kamen dann auch der Werkstattleiter und die Sozialdienstkoordinatorin Frau Trömel. Alle waren begeistert und angetan von der unvermittelten Offenheit, mit der die Gefangenen ihrem Inneren Ausdruck verliehen hatten.
Mittlerweile hat Schmitt viele hundert künstlerisch gestaltete Wahlzettel sammeln können. Die Arbeiten werden im Frankfurter Kunstverein Familie Montez vom 13. bis zum 20. Dezember 2020 der Öffentlichkeit vorgestellt. Auch dort wird man die Möglichkeit haben, selbst Hand anzulegen und Blanko-Wahlzettel künstlerisch zu bearbeiten. Für die Strafgefangenen ist die Ausstellung etwas ganz Besonderes: Sie merken, dass sie ernstgenommen werden. Der Kunstverein ist ein äußerst prominenter und begehrter Veranstaltungsort. Dort hat der Deutsche Fußballbund seine Jahresversammlung abgehalten. Fernsehsendungen werden von dort live ausgestrahlt. Und weltberühmte Künstler wie die New Yorker Photographin Annie Leibovitz hatten hier ihre Ausstellung.
Die Initiative „Werde DEMOKREATIV!“ will junge Menschen zur aktiven Teilhabe an der Demokratie auf spielerische Art anstiften.