(openPR) Bielefeld (hsbi). „Am liebsten mag ich das Cola-Eis“, sagt Enes Karabulut, der gerade Feierabend gemacht hat und sich nun ein Eis am Kiosk kaufen möchte. Karabulut ist 41 Jahre alt und arbeitet in der Holzwerkstatt in Bethel. Hier lebt er auch in einer Wohngruppe. Durch die kognitiven Einschränkungen, die er seit seiner Geburt hat, kann er sich nicht lange konzentrieren und hat Probleme, sich zu orientieren. Nach der Arbeit besucht er gern den Kiosk am Bethel-Eck. Durch seine Orientierungsprobleme muss er dabei begleitet werden. Doch nicht immer hat eine Betreuungsperson Zeit für ihn. Das ist oft frustrierend: Denn am liebsten würde er seine Feierabendrunde ganz alleine und selbstbestimmt drehen.
Wie Enes Karabulut geht es vielen Menschen mit kognitiven Einschränkungen: Eine wesentliche Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben ist die möglichst uneingeschränkte Mobilität. Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass sich gerade Menschen mit Behinderung wenig eigenaktiv in ihrem Sozialraum bewegen und sehr abhängig von Unterstützung durch ihr soziales Umfeld oder Fachkräfte sind. Hier setzt das Forschungsprojekt der Hochschule Bielefeld (HSBI) an und will mit der Entwicklung eines adaptiven Lern- und Trainingssystems dazu beitragen, dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen sich möglichst selbstständig und sicher im öffentlichen Raum bewegen können. Der volle Name des Projekts lautet „Personalized Augmented Guidance for the Autonomy of People with Intellectual Impairments“, was sich in etwa übersetzen lässt in „Personalisierte unterstützende Führung zur Förderung der Selbstbestimmtheit von Menschen mit kognitiven Einschränkungen“, kurz: PAGAnInI.
Ziel ist, einen Prototyp eines Mobilitätstrainingssystems zu entwickeln, das Menschen wie Enes Karabulut dabei hilft, sich auf ihren täglichen Wegen in ihrem Umfeld selbstbestimmt zu bewegen – zum Beispiel für den Weg von der Wohnung zum Arbeitsplatz, von dort zu einem Anlaufpunkt wie dem Kiosk oder einem anderen Ziel. Karabulut arbeitet dabei aktiv in dem Forschungsprojekt mit: Er ist einer von über 20 Experten und Expertinnen, die das Trainingssystem in der Entwicklungsphase mit Leben füllen.
Prof. Dr. Gudrun Dobslaw, Projektleiterin an der HSBI, erklärt: „Langfristig soll eine App entwickelt werden. Wir arbeiten jetzt zunächst am Prototyp der Software. Man kann sich das so vorstellen, dass die Nutzerinnen und Nutzer ihre täglichen Wege künftig mit Hilfe der App auf ihrem Smartphone eigenständig zurücklegen können.“ Auch der Datenschutz ist ein wesentlicher Teil des Projekts, wie Dobslaw erklärt: „Es werden insbesondere datenschutzrechtliche und persönlichkeitsrechtliche Aspekte auf der Basis bestehender Datenschutzgesetze beachtet. Dazu gehören Fragen der informationellen Selbstbestimmung und Persönlichkeitsschutz, Betreuungsrecht und Datenschutzrecht. Die für das Projekt relevanten Rechtsfragen werden im Dialog mit den Forschungs- und Praxispartnern diskutiert.“
Das System wird in drei Schritten individuell auf den Nutzer oder die Nutzerin eingestellt. Der erste Schritt ist die Erkundungsbegehung. Dabei geht die Person mit kognitiven Einschränkungen zum Beispiel mit einem Sozialarbeiter den gewünschten Weg gemeinsam ab. Sie machen wichtige Merkpunkte („Landmarks“) aus, fotografieren diese mit dem Smartphone. „Dabei wird die Person immer auf Augenhöhe einbezogen“, erklärt Tristan Gruschka, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HSBI. So können auch die Landmarks berücksichtigt werden, die für die Person individuell von Bedeutung sind. „Das kann ein Kiosk sein, eine Parkbank, eine Straßenlaterne oder was auch immer“, so Gruschka. Enes Karabulut macht die Erkundungsbegehung für den Weg von der Werkstatt zum Kiosk mit Konstantin Rink, der ebenfalls im Projekt beschäftigt ist.
Im zweiten Schritt steht die Lernroutenverhandlung an: Eine Fachkraft, oder in diesem Fall der wissenschaftliche Mitarbeiter Konstantin Rink, geht mit Enes Karabulut die Fotos der Landmarks durch, die sie auf der Route gemacht haben und fragt ihn, warum er gerade dieses oder jenes Motiv gewählt hat und was er damit verbindet. Alles wird notiert. Für Enes Karabulut ist ein Arminia-Bielefeld-Aufkleber an einer Straßenlaterne ein wichtiges Element, da er großer Fan des Clubs ist. An einer anderen Stelle hat er einen Briefkasten fotografiert, in den er manchmal Briefe einwirft. Später können sie diese Merkpunkte in der App individuell benennen. Diese Namen werden dann per Sprachausgabe vom System vorgelesen und helfen, auf dem richtigen Weg zu bleiben.
Der dritte Schritt ist das Training: Enes Karabulut legt den Weg nun alleine zurück. Er kann sich von dem Trainingssystem helfen lassen, indem er sich die Landmarks zeigen und seine Notizen vorlesen lässt, muss es aber nicht. An dieser Funktion wird aktuell noch gearbeitet. Auch praktische Übungen wie ein Quiz, welche Richtung nun die richtige ist oder welche Landmark als nächstes kommt, sind integriert, um eine interaktive Auseinandersetzung mit dem Weg zu fördern. Die Entscheidung, welche Übungen durchgeführt werden oder welche Merkpunkte übersprungen werden können, fällt der „Trainer“ Karabulut, nachdem er seinen Lernfortschritt durch einen Blick auf das Dashboard, einer Übersicht die ihm in seinem Trainermodul angezeigt wird, überprüft hat.
Über einen Notfallknopf kann er auch die diensthabende Fachkraft anrufen, die dienstlichen Handynummern sind im System hinterlegt. „Ziel ist, dass er irgendwann den Weg alleine schafft, ohne aufs Handy gucken zu müssen“, erläutert Tristan Gruschka. Dabei hilft das Smartphone vor allem als Absicherung, wie er ergänzt: „Oft ist nicht die Orientierung das Hauptproblem der Navigation, sondern die Unsicherheit und fehlende Routine. Das System gibt ihnen die notwendige Sicherheit in zwei Stufen: Einmal als individueller Guide mit Fotos, und einmal als Notfalltelefon.“
Das Projektteam füllt damit möglicherweise eine Lücke, die insbesondere erwachsene Menschen mit kognitiven Einschränkungen betrifft. Tristan Gruschka erklärt: „Solange die Personen noch zur Schule gehen, wird die Mobilität curriculumbasiert vermittelt, es gibt also entsprechende Konzepte. Aber wenn die Personen über 27 Jahre alt sind, und in Wohn- und Werkstätten der Eingliederungshilfe eingebunden sind, passiert das eher spontan, je nachdem, welche Betreuungsperson gerade Zeit hat.“
Inzwischen steht der erste Prototyp, mit dem trainiert wird. Doch wie steht es um die App? Dr. Marcos Baez, der am Campus Minden der HSBI die technische Entwicklung des Systems realisiert hat, erklärt: „Die Entwicklung einer marktreifen Anwendung war nie Ziel dieses Projekts. Wir liefern mit dem Prototyp eine gute Vorlage. App-Entwicklung ist eine recht kostspielige Angelegenheit, die nur größere Einrichtungen in Eigenregie schultern können. Es ist auch denkbar, dass sich ein Start-up um die Entwicklung kümmert und diese dann verschiedenen Einrichtungen kostenpflichtig anbietet.“ Für Enes Karabulut und viele andere Menschen wäre dies ein großer Schritt in Richtung Selbstbestimmtheit.