(openPR) Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat mit Beschluss vom 24.07.2024 (Az: 21 W 146/23) folgenden Fall entschieden:
Eine Erblasserin hinterließ eine Tochter. Ein Testament hatte die Erblasserin nicht errichtet. Die Tochter erklärte die Ausschlagung der Erbschaft. Ein dreiviertel Jahr später erklärte sie die Anfechtung der Ausschlagung der Erbschaft. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass sie bei der Ausschlagung davon ausgegangen sei, dass im Nachlass kein Vermögen vorhanden ist. Aufgrund der Alkoholkrankheit der Erblasserin sei sie nicht bei dieser aufgewachsen und habe zu ihr seit etwa ihrem 11. Lebensjahr keinen Kontakt mehr. Die zuständige Kriminalbeamtin habe ihr berichtet, dass die Wohnung der Erblasserin in einem chaotischen und unaufgeräumten Zustand gewesen sei und habe ihr auf Nachfrage mitgeteilt, dass sich die Wohnung nicht in der besten Wohngegend befinde. Nach Internetrecherchen habe die Tochter festgestellt, dass die Adresse hinter dem Bahnhof liege. Aufgrund der schlimmen Kindheitserfahrungen sei sie davon ausgegangen, dass ihre Mutter abgerutscht sei und im sozialen Brennpunkt gelebt haben müsse. Daraufhin habe sie die Erbschaft ausgeschlagen. Erst durch das Schreiben des Nachlasspflegers habe sie davon Kenntnis erhalten, dass ein Girokonto und Sparbuch mit Guthaben in Höhe von insgesamt 72.077,87 € gebe. Weil ihr insbesondere das Girokonto und das Sparbuch nicht bekannt gewesen seien, habe sie sich über die Zusammensetzung des Nachlasses im Irrtum befunden. Aufgrund der Alkoholerkrankung der Mutter, des chaotischen und unaufgeräumten Zustands ihrer Wohnung und des von ihr als problematisch eingestuften Wohnviertels habe sie sich nicht vorstellen können, dass ihre Mutter überhaupt über Geldvermögen verfüge.
Die Tochter hat sodann die Erteilung eines Erbscheins als Alleinerbin beantragt und sich hierfür auf die Anfechtung ihrer Erbschaftsausschlagung gestützt.
Das Nachlassgericht hat den Erbscheinsantrag der Tochter zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Erbausschlagung wirksam war. Die Anfechtung der Erbausschlagung sei unwirksam, weil sich die Tochter nicht über eine verkehrswesentliche Eigenschaft im Irrtum befunden habe.
Die Tochter legte hiergegen Beschwerde ein. Zur Begründung führt sie aus, dass sie die Ausschlagung erklärt habe, nachdem ihr von Seiten der Polizei ausdrücklich abgeraten worden sei, die Wohnung zu betreten. Außerdem sei ihr mitgeteilt worden, dass die Wohnung offensichtlich keine werthaltigen Gegenstände enthalte, sondern ungeachtet des verwahrlosten Zustandes sehr einfach bis primitiv ausgestattet gewesen sei.
Das Nachlassgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt. Die Tochter wurde vor dem Oberlandesgericht persönlich angehört. Die Beschwerde hat Erfolg. Somit kann die Tochter die Erbschaft aufgrund Irrtums anfechten.
Es ist zutreffend, dass die Tochter das Erbe zunächst wirksam ausgeschlagen hat. Sie hat aber dann die Ausschlagungserklärung fristgemäß und auch im Übrigen wirksam angefochten.
Die Ausschlagung der Erbschaft kann wegen Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses angefochten werden. Erforderlich ist ein kausaler Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses. Ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft ist anzunehmen, wenn der Annehmende falsche Vorstellungen hinsichtlich der Zusammensetzung des Nachlasses, hinsichtlich des Bestandes hat. Die irrtümliche Vorstellung über eine Überschuldung ist vielmehr im Rahmen der Kausalitätsprüfung zu berücksichtigen.
Die Ausschlagung einer Erbschaft könne grundsätzlich wegen eines Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses angefochten werden, wenn der Irrtum für die Ausschlagungserklärung kausal gewesen sei. Ein Irrtum setze eine Abweichung zwischen Vorstellung und Realität voraus. Ein solcher Irrtum sei für eine Ausschlagung kausal, wenn der Erbe naheliegende Erkenntnismöglichkeiten über die Zusammensetzung des Nachlasses genutzt und diese – im Ergebnis unzutreffend – bewertet habe. Treffe der Erbe dagegen seine Entscheidung bewusst spekulativ, somit auf einer ungesicherten Grundlage, handele es sich allein um Vermutungen hinsichtlich der Zusammensetzung des Nachlasses. Eine so entstandene Fehlvorstellung berechtige nicht zur Anfechtung, da der Erbe in diesem Fall seine Entscheidung bewusst auf spekulativer Grundlage getroffen hat.
Nach diesen Grundsätzen hat die Tochter zur Überzeugung des Oberlandesgerichts dargetan, dass sie zum Zeitpunkt der Ausschlagungserklärung irrtümlich falschen Vorstellungen hinsichtlich der Zusammensetzung des Nachlasses unterlag. Insbesondere irrte sie sich über das Vorhandensein der Guthaben auf Spar- und Girokonto.
Die Tochter hat sich in mehreren Telefonaten mit der nach dem Tod der Erblasserin zuständigen Kriminalbeamtin besprochen und sich von dieser die Todes-, Lebens- und Wohnumstände der Erblasserin schildern lassen. Dass die Tochter aufgrund der hierdurch gewonnenen Informationen und vor dem Hintergrund der aus der Vergangenheit bekannten jahrelangen Geldnot der Erblasserin zu der Überzeugung gelangte, dass die Erblasserin über keinerlei Vermögen verfügte und der Nachlass daher überschuldet sei, ist objektiv nachvollziehbar und wurde von der Tochter glaubhaft geschildert.
Das Oberlandesgericht ist davon überzeugt, dass Tochter bei Abgabe ihrer Ausschlagungserklärung über die Zusammensetzung und damit eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses irrte und nicht lediglich das Fehlen von Vermögenswerten der Erblasserin für wahrscheinlich hielt.
Dem Erbscheinsantrag war somit stattzugeben. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist mit keinem Rechtsmittel anfechtbar.
Dieser Beitrag wurde von Rechtsanwalt Oliver Thieler, LL.M. von der Rechtsanwaltskanzlei Prof. Dr. Thieler – Prof. Dr. Böh – Thieler Rechtsanwaltsgesellschaft mbH erstellt.
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