(openPR) Erst vor wenigen Wochen sorgte das Sturmtief „Boris“ mit enormen Niederschlägen für Chaos und Überschwemmungen in Mittel- und Osteuropa. Wie eine Analyse des Alfred-Wegener-Instituts nun zeigt, hätte „Boris“ in einer Welt ohne die heutige Erderwärmung rund neun Prozent weniger Regen gebracht. Möglich ist eine so konkrete Aussage durch eine neue Modellierungsmethodik, deren Einsatz in Nahe-Echtzeit nun im Fachmagazin Nature Communications Earth & Environment vorgestellt wurde. Parallel dazu hat das AWI-Team ein frei verfügbares Online-Tool veröffentlicht, mit dem Interessierte den Fingerabdruck des Klimawandels im aktuellen Wettergeschehen identifizieren und eigene Vergleichsgrafiken erstellen können.
Mitte September sorgte das Sturmtief „Boris“ für sintflutartige Regenfälle und extremes Hochwasser in Polen, Tschechien, Österreich und Rumänien. Vielerorts handelte es sich um einen der stärksten jemals gemessenen Niederschläge innerhalb von fünf Tagen. Mindestens 27 Menschen starben, unzählige mussten ihre Häuser verlassen. Inzwischen hat sich die Lage entspannt und die Aufräumarbeiten laufen auf Hochtouren. Schon erschrecken uns aber die aktuellen Extreme in Spanien. Immer wieder wird in Öffentlichkeit, Politik und Medien eine Frage diskutiert: War der globale Klimawandel schuld an der Katastrophe?
„Diese absolut legitime Frage kann die Forschung seit einigen Jahren schon recht gut beantworten“, sagt Leitautorin Dr. Marylou Athanase, Physikerin in der Abteilung Klimadynamik am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Bereits ein oder zwei Wochen nach dem Ereignis liefern sogenannte Attributionsstudien erste Aussagen dazu, in welchem Maße ein solches Ereignis durch den Klimawandel wahrscheinlicher geworden ist.“
Das Problem dabei: Wahrscheinlichkeiten sind oft schwer zu greifen, besonders wenn sie auf konkrete, erlebbare Ereignisse treffen. Gerade in der Kommunikation nach außen – mit der Öffentlichkeit und Entscheidungstragenden – fehlte der Wissenschaft bislang ein Werkzeug, das den Einfluss des globalen Klimawandels auf tatsächliches Wetter vor Ort eindrücklich und leicht verständlich zeigt. „Am AWI haben wir deshalb einen ganz neuen Weg maßgeblich mit vorangetrieben – den ‚Storyline‘-Ansatz“, erklärt Dr. Antonio Sánchez-Benítez, ebenfalls Physiker in der Abteilung Klimadynamik und Ko-Leitautor der Studie. „Im Kern arbeiten wir dabei nach dem Was-wäre-wenn-Prinzip. Wie hätte ein konkretes Ereignis in einer Welt ohne Klimawandel ausgesehen? Und wie in einem noch wärmeren Klima? Durch den Vergleich der Was-wäre-wenn-Szenarien mit der Realität können wir dann sehr konkret den Fingerabdruck des Klimawandels bestimmen – nicht nur für Extremereignisse, sondern auch für das alltägliche Wetter.“
Am Beispiel des Sturmtiefs „Boris“ haben die AWI-Forschenden nun im Fachmagazin Nature Communications Earth & Environment vorgestellt, was der neue Ansatz leisten kann. Beim Vergleich der Szenarien zeigt sich: Sturmtief „Boris“ hätte ohne die globale Erwärmung circa neun Prozent weniger Niederschlag verursacht. In der Realität aber konnte sich „Boris“ auf dem Weg nach Mitteleuropa über dem östlichen Mittelmeer und dem Schwarzen Meer deutlich stärker auftanken, weil dort das Wasser im Vergleich zur vorindustriellen Zeit um zwei Grad Celsius wärmer geworden ist – und entsprechend mehr Wasserdampf in der Luft über der Region vorhanden war. Neun Prozent hört sich dabei erstmal wenig an, aber bei den Folgen von Starkregen geht es ja immer darum: Wieviel Wasser sammelt sich am Boden an und wohin läuft es ab – kann ein Fluß, ein Staudamm, die Kanalisation es halten, oder läuft es über und richtet so enormen Schaden an?
Wie aber ist es den Forschenden gelungen, Klimamodellrechnungen, die ja eher für langfristige Trends ausgelegt sind, mit konkretem lokalen Wetter zu verbinden? „Eine wichtige Säule dabei ist die sogenannte ‚Nudging‘-Technik“, erklärt Dr. Helge Gößling, Klimaphysiker und Leiter der Storyline-Forschung am AWI. „Klimamodelle simulieren normalerweise eine ganz eigene, quasi zufällige Abfolge von Wetterzuständen, die konsistent ist mit den physikalischen Gesetzen, auf denen ihre Programmierung beruht. Um Unterschiede im Klima zu bestimmen, muss man dann über einen langen Zeitraum und entsprechend viele Wetterzustände anschauen, ob sich die Mittelwerte und Verteilungen ändern. Auch bei Wettermodellen hat der simulierte Zustand nach ein paar Wochen ja nicht mehr viel mit der Realität zu tun, das konkrete Wetter ist eben nur begrenzt vorhersagbar. Beim ‚Nudging‘, was im Englischen so viel wie ‚Anstupsen‘ bedeutet, geben wir dem Modell real gemessene Winddaten wie die des Jetstreams vor und schubsen es so Stunde für Stunde ein Stück weit in Richtung der echten Winde. So können wir reales Wetter im realen Klima sehr gut simulieren. Dann versetzen wir das Modell in eine Welt ohne Klimawandel, indem wir unter anderem die Treibhausgaskonzentration herunterfahren, und wiederholen das Experiment.“
wissenschaftliche Ansprechpartner: Dr. Helge Gößling, Tel.: 0471 4831-1877; E-Mail: Marylou Athanase, Tel.: 0471 4831-1683; E-Mail: (ausschließlich Englisch) Antoinio Sanchez Benitez, Tel.: 0471 4831-1878; E-Mail: (ausschließlich Englisch)